Artikel | Marlene Pick
"Es ist unsere Zeit für Entscheidungen"
Zusammenfassung
- Marlene muss sich nach ihrer Rückkehr aus dem Westjordanland erst wieder an ihre Heimat gewöhnen.
- Sie hat nun Zeit, über ihre Zukunft nachzudenken, und viele Möglichkeiten.
- Anders geht es dem jungen Palästinenser Yazan, der aus Deutschland wieder zurück nach Hebron gegangen ist und dessen Perspektiven nicht so komfortabel sind wie Marlenes.
Es ist der Monat dazwischen. Zwischen Pläne schmieden und in die Tat umsetzen. Zwischen ankommen und wieder aufbrechen. Zwischen alt und neu. Zehn Monate war ich in Bethlehem, habe Herbst, Winter, Frühling und Sommeranfang dort verbracht. Ich habe Weihnachten und Silvester auf Arabisch gefeiert und die ansteckende Festlichkeit im muslimischen Fastenmonat Ramadan kennengelernt. Auf bunt duftenden Märkten habe ich neue Obstsorten entdeckt und nachts in der Wüste den Sternenhimmel bestaunt.
Ungewohnte Stille in der Nacht
Zurück in Deutschland habe ich mich wieder an den Regen gewöhnt und wundere mich über die Mädchen, die ihm ganz selbstverständlich in Hotpants trotzen. Durch ein Zugfenster bestaune ich grüne Wiesen und Wälder, und nachts weckt mich die ungewohnte Stille: Kein Muezzin ruft zum Gebet, und wilde Hunde gibt es hier auch nicht.
Den Regen vermissen
Vielleicht weckt ihr Gebell nun Yazan in Hebron. Ihm geht es vermutlich so wie mir – nur andersherum. Acht Monate war der junge Palästinenser nämlich in Deutschland, hat hier gelebt, perfekt Deutsch gelernt und in einer sozialen Einrichtung gearbeitet. Durch das Fenster der Sammeltaxis bestaunt er jetzt vielleicht die Wüste und das Blau des Toten Meeres. Womöglich vermisst er sogar den Regen.
Eine Zeit für Entscheidungen
Es ist die Zeit dazwischen, für uns beide. Es ist unsere Zeit für Entscheidungen und Richtungswechsel. Allerdings unterscheiden wir uns in dem, was danach kommt. Ich werde Liberal Arts and Sciences in Freiburg studieren. Dort in eine WG ziehen, die mir meine Eltern finanzieren. Wenn ich zusätzliches Taschengeld möchte, vielleicht für die nächste große Reise, könnte ich anfangen zu kellnern. Wirklich nötig ist es aber nicht. Ein bisschen später werde ich ein Auslandssemester machen und meine Semesterferien nutzen, um die Welt zu entdecken. Was ich irgendwann werden möchte, weiß ich noch nicht, und ich erlaube mir, alle ernsteren Fragen erst mal vor mir herzuschieben. Denn jetzt möchte ich vor allem die Zeit, den Neuanfang genießen.
Der Alltag ist eine tägliche Herausforderung
Yazan hat seinen Bachelor in Maschinenbau gemacht. Im Moment arbeitet er im Bauunternehmen seines Vaters. Aber für immer möchte er das nicht machen. Stattdessen könnte er weiter studieren, es gibt gute Unis in den palästinensischen Gebieten. Deshalb gibt es dort auch sehr gut ausgebildete junge Menschen. Aber aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage in den palästinensischen Gebieten sind kaum Arbeitsplätze verfügbar. Ein Großteil der Absolventen geht nach der Uni zum Arbeiten ins Ausland, nach Saudi-Arabien oder Katar.
„Ist es dann vielleicht doch sinnvoller einen Job zu machen, der einem nicht gefällt?“, fragt sich Yazan. „Immerhin ist es ein Job.“ Und dann ist da natürlich der Nahostkonflikt, der das Leben im Westjordanland zu einer täglichen Herausforderung macht. Yazan meinte einmal, dass seine Kinder an einem besseren Ort aufwachsen und sich nicht an Soldaten und Checkpoints gewöhnen sollen. Vielleicht kommt Yazan zurück nach Deutschland. Vorausgesetzt, er bekommt ein Visum mit Arbeitserlaubnis. „Shu barefni?“ – „Was weiß ich?“ ist Yazans abschließende Antwort auf meine Frage nach seinen Zukunftsplänen.
Es tut gut die Perspektive zu wechseln
Meine Zeit dazwischen dauert einen Monat. Yazans Zeit dazwischen vermutlich noch ein bisschen länger. Irgendwie werden wir beide unseren Weg machen. Ich ziemlich komfortabel und zielsicher, so wie Reisen ohne Umsteigen mit dem ICE. Yazan mit Umwegen und Gegenwind, so wie eine Fahrt bei geschlossenem Checkpoint und geöffnetem Fenster im Sammeltaxi. ICE oder Sammeltaxi, Fahrrad oder Esel – es tut gut, ab und an die Perspektive zu wechseln und während der Fahrt umzusteigen. So wie Yazan und ich es im letzten Jahr getan haben.
Und wer weiß, wenn Yazan schließlich doch in Deutschland landet, ist die Distanz zwischen unseren Unistädten womöglich sogar mit dem Fahrrad machbar.